Die Himmelsöffnung der Jurte — Überlegungen nach einer Reise in die Mongolei

Die Himmelsöffnung der Jurte — Überlegungen nach einer Reise in die Mongolei

Spirituelle Reisen wollte ich unternehmen, anbieten und organisieren — seit meiner Pensionierung. Beim Besuch des Panda-Parks von Chendo in China versuchte ich diese Touristenattraktion als ein mögliches Leitbild der naturentfremdeten chinesischen Stadtmenschen zu verstehen — dies scheint mit weit hilfreicher als dein Blick auf die (renovierte) chinesische Mauer oder die Tausenden von Kriegern eines übermächtigen Herrschers. (Vgl. Beitrag Wollen die Chinesen uns einen Bären aufbinden?) Diesen Sommer brachte mich die transsibirische Eisenbahn von Moskau durch die unendliche Taiga nach Irkutsk und an den Baikalsee zu den Burjaten und von dort weiter in die Steppen der Mongolei. Dieses riesige Land zerfällt in die Millionenstadt Ulan Bator — eine Art „Mega-Oase“ — und die ganz dünn besiedelten unendlichen Steppen der Nomaden. Was ergibt sich aus diesem Nebeneinander von Viehhirten mit ihren Tieren einerseits und den High-Tech-Menschen in der verkehrsüberlasteten, smog-gefährdeten Grossstadt? Was können sie und wir lernen aus der Tradition für die Gegenwart und Zukunft? Welche Leitbilder weisen in eine sinnvolle Entwicklung? Zwei Bilder aus der Geschichte und Tradition bleiben in Erinnerung: Die Jurte der Nomaden und Dschingis Khan als Beutesteppenkrieger — ein absolutes Gegenbild zu den Tausenden von Datschas entlang der russischen Transit oder auch zur City von Ulan Bator mir ihren Wolkenkratzern und Wohnblocks.

Der mongolische Welteroberer ein Leitbild für die moderne mongolische Gesellschaft?

 Wie ein Fels thront der Mongolenherrscher und Welteroberer Dschingis Khan vor dem neuen Parlamentsgebäude; eifrige Nationalisten haben ihm eine gute Autostunde östlich der Hauptstadt ein silbrig glitzernden Riesen-Denkmal errichtet — die grösste Reiterstatue der Welt! — offenbar im Wettstreit mit der Freiheitsstatue von New York!

 Triumphalistischer und völkischer Nationalismus befällt zur Zeit viele Völker und birgt eine Gefahr dar für das friedliche Nebeneinander oder besser Ineinander der Völker. Ein Rückgriff auf eine ahistorische, mythisch überhöhte Vergangenheit ist für mich ein Anachronismus wie der Teil und Rütlischwur für die CONFOEDERATIO HELVETICA! Mehr noch: die vergebliche oder gefährliche Beschwörung eines Nationalismus ist auch als blosse Erinnerung kein Wegweiser für eine Gesellschaft der Zukunft.

Ein bedenkens-wertes Erbe: Die Jurte als Kulturform

Ganz andere Werte vermittelt die traditionelle Jurte der nomadischen Steppenbewohner. Sie ist nicht Überbleibsel einer „primitiven“ Vergangenheit, auch und nicht bloss romantische Attraktion für neugierige Touristen, sondern als Kulturform Mittelpunkt einer ursprünglichen Lebensweise inmitten einer klimatisch extremen und bedrohlichen Natur, Mittelpunkt ebenso von Gesellschaft, Wirtschaft und Kult. Diese Räume aus Holz und Filz sind im Innern wie eine ausgestülpte Erdhöhlen, von aussen weisse Orientierungspunkte in der Steppe, aber nicht zu Dörfern versammelt. Die Jurte schafft ein erwärmtes Innen zum Wachen und Schlafen, abgrenzend gegenüber der wilden, geisterbelebten Natur. Sie  eignet sich als Wohnform überhaupt nicht für die Repräsentation von Macht und Einfluss und ist  mit ihren vergänglichen Materialien noch nicht Architektur — und doch in völligem Gegensatz zu den Tausenden von Datschas, an welchen die Transsib vorbeiführte, diese kunstlosen  Hütten der russischen Stadtflüchtlinge.

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Die Jurte hat einen einzigen, runden, kumpelförmigen Innenraum und dieser hat eine grosse symbolische Bedeutung: er ordnet die soziale Struktur und bildet auch das religiöse Weltbild der Hirtennomaden ab — der absolute Gegensatz zu den modernen Bauten aus Glasfenstern, wo die Aussenwelt hereingeholt wird — am sichtbarsten im blauen Blue Sky Tower am Hauptplatz von Ulan Bator.

Nur ein einziger einfacher Zugang, immer nach Süden ausgerichtet, führt ins Innere. Keine andere Öffnung, kein Fenster verbindet innen und aussen. Nur gegen oben gibt eine kreisrunde Öffnung durch einen Holzkranz, ursprünglich es ein Rauchabzug, den Blick zum Himmel, zum unendlichen Himmel über der grenzenlosen Steppe. Dieser Himmel ist der bis heute gibt das Himmelsblau die Nationalfarbe der Mongolei. Der einzige Blick aus der Jurte geht zum endlosen, blauen Himmel … das ist bereits die grundlegende religiöse Dimension, denn dieser Himmel ist als TENGRI in der Nomadenreligion die höchste Wirklichkeit.

Tengri in der Jurte

Unter dem Begriff Tengrismus werden die religiösen Überzeugungen und kultischen Ausdrucksformen der Nomaden zusammengefasst — einige Stichwörter und der Hinweis auf den Wikipedia-Artikel müssen genügen.

Tengri als höchste unpersönliche (!) Gottheit gilt als der Erschaffer und Hüter des kosmischen Gleichgewichts und der natürlichen Kreisläufe. Dschingis Khan begann seine Reden immer mit den Worten: „Auf Wunsch des ewigen blauen Himmels…“ und leitete seine Macht als seinen vom Himmel ab.

Im Tengrismus wird alles in der Natur Befindliche als von einem Geist bewohnt geglaubt. Tengri gilt als der mächtigste von allen. Er gilt als der Erschaffer und Hüter des kosmischen Gleichgewichts und der natürlichen Kreisläufe.

Der Sinn des Lebens  für einen Menschen besteht darin, mit „allem, was unter dem Himmel ist“, also mit seiner Umwelt im Einklang zu leben. Der Mensch steht in der Mitte der Welten und sieht seine Existenz zwischen dem „ewigen blauen Himmel“, der „Mutter Erde“  , die ihn stützt und ernährt, und einem Herrscher, der als „Sohn des Himmels“ gilt, geborgen.  Jedes Ritual begann mit der Ehrung von Tengri, der Mutter-Erde Yer und der Ahnen. Tengri wurde auch im Alltag der Menschen ständig erwähnt und gewürdigt; wenn ein besonderes Getränk getrunken werden sollte, goss man zuerst einen Teil davon in eine Schüssel und überreichte es dem Vater-Himmel, der Mutter-Erde und den Ahnen. Außerdem opferten Frauen regelmäßig Milch oder Tee, indem sie mit dem Getränk um das Zelt gingen und es dabei dreimal in alle vier Himmelsrichtungen verteilten.

Die Jurte als Symbol

Die Jurte ist nicht nur die Mitte des Kosmos, sondern ist selbst ein Mikrokosmos. … Im Zentrum der Jurte befindet sich die Feuerstelle, der heiligste Punkt. Dies ist der Platz von Golomto, der Tochter Tengris und das Zentrum des Mikrokosmos. Die von der Feuerstelle aufsteigende Rauchsäule symbolisiert den Weltenbaum, die Rauchöffnung an der Decke den Eingang ins himmlische Reich.  Der kleine, runde Sonnenstrahl, der durch die Rauchöffnung in die Jurte fällt, bewegt sich im Uhrzeigersinn. An ihr kann man die Uhrzeit ablesen.

Die Stelle hinter der Feuerstelle wird Hoimar genannt, dies ist die Nordseite („hinten“). Hier wird ein Tisch hingestellt, auf der das Totem (Ongon) aufgestellt wird und Opfergaben für die Geister abgelegt werden. Der Sitzplatz daneben gilt als der bedeutendste Sitzplatz im Zelt. Hier nehmen Stammesälteste, Schamanen und andere ehrwürdige Gäste Platz. Rechts ist die männliche Seite des Zeltes, hier nehmen nur Männer Platz. Waffen und andere männliche Gebrauchsgegenstände werden ebenfalls nur hier aufbewahrt. Links ist die weibliche Seite. Hier nehmen Frauen Platz, auch weibliche Gebrauchsgegenstände wie Küchengeräte oder Kinderbetten befinden sich hier. Jugendliche halten sich in der Nähe der weiblichen Seite auf. (Im zwanzigsten Jahrhundert scheint die Ausrichtung zwischen Osten und Westen aber an Bedeutung verloren zu haben, heute sind viele Jurten spiegelverkehrt eingerichtet.)

Aus diesen wenigen Sätzen wird die Bedeutung der Jurte im grossen der Zusammenhang von Natur (Steppe, Himmel) und Kultur (Wohnform, Religion) sichtbar.

Ein uraltes Naturverständnis oder ein neues geistiges Bewusstsein?

Anhänger des Tengrismus haben großen Respekt vor der Natur, vor den Bergen, Wäldern, Flüssen, Bäumen und allen anderen Lebewesen. Verschwendung gilt als Beleidigung gegenüber Tengri und seiner Naturgeister. Der Mensch sieht seine Existenz nicht darauf ausgerichtet, die Natur auszubeuten, sondern lebt mit dem Bewusstsein, dass sein Überleben von einer intakten Umwelt abhängt.

Die modern Menschheit hat riesiige technische Fortschritte erzielt, droht aber aus Respektlosigkeit vor Natur und Kultur die Grundlagen des biologischen und sozialen Zusammenlebens zu zerstören.

Auch für die innere und persönliche Dimension des Menschen ist die Rückbesinnung auf archaische Elemente von Bedeutung. Das nationale Windpferd der Mongolen, welches auf dem Wappen dargestellt ist, bezeichnet die persönliche geistige Kraft, welche sich in der Brust befindet. Je nachdem, wie der Mensch sich und seine Umwelt im Gleichgewicht hält, ist die geistige Kraft bei jedem unterschiedlich groß; ein sehr starkes Windpferd bewirkt, dass ein Mensch sehr klar denkt, sehr vorausschauend ist und stets die richtigen Entscheidungen trifft. Wenn der Mensch seine Kraft für böse Absichten einsetzt und damit das Gleichgewicht stört, schwächt er das Windpferd ab. Deshalb neigen böse Menschen irgendwann auch zur Selbstzerstörung. Man kann das Windpferd mit täglichen kleinen Ritualen stärken, zum Beispiel durch ein Gebet oder durch die Darbringung eines Opfergetränks.

Die Integration zu einem neuen umfassenden Bewusstsein

Die Rückbesinnung auf die Nomandenkultur ist nicht einfach ein Rückschritt in eine frühere Kultur und Bewusstseinsstufe oder eine romantische Verklärung, sondern im Sinne von Ken Wilber eine Aufgabe, nämlich frühere Weisheit in eine umfassendere Weltsicht zu integrieren. Nach ihm verschwimmen im magisch-animistischen Bewusstsein die Grenzen der sozialen Welt mit denen der Welt und Natur überhaupt, aber das ist kein Garant für eine ökologischen Weisheit im Umgang mit der Umwelt. Deshalb gibt es kein Zurück, wohl aber die Transformation in ein Weltbild, das den globalen Gemeinbesitz schützt, die gemeinsame Biosphäre, die keiner Nation, kleinem Stamm, keiner Religion und keiner Rasse gehört, Bewusstsein, welches das transnationale Finanzsystem regulieren und den Weltfrieden in einer neuen Ordnung föderierter Staaten sichern will. Dies verlangt nach höheren Entwicklungsstufen des Bewusstseins, welches frühere Ansätze bewusst integriert. Dafür liefert die nomadische Kultur Anstösse: sie ist wenig an materiellen Besitz gebunden und weit mehr in diese karge, lebensfeindliche Natur eingebunden und verbindet die Menschen gleichzeitig in ursprünglichen Sozialformen von Familie und Clan.

Ken Wilber spricht von einem neuen Bewusstsein, von einer „Über-Seele“, die auch als Weltseele erfahren wird, denn das Ich und die Welt haben hier ihren gemeinsamen Quell, Ursprung.

Aktuelle mongolische Rückbesinnung

Einen Bezug der Tradition zur Gegenwart sucht auch der mongolische Gelehrte Schagdaryn Bira in Ulan Bator. In einem Gespräch bezeichnet er den Tengrismus (und nicht den Welteroberer Dschingis Khan) als bedeutsam für die aktuelle und auch mongolische Auseinandersetzung mit der Globalisierung: Nomadische Völker sind offen für andere Einflüsse und Zivilisationen; ihr Beitrag zu einer Weltkultur werde anders sein als der der asiatischen Weltmacht China. Die Mongolei könne mit Hilfe der Vereinten Nationen eine Rolle als neutralisierender Faktor spielen, um die negativen Konsequenzen der Globalisierung zu verringern. Es gelte dabei nicht nur für die Mongolei, sondern auch für andere kleine Nationen… Die Mongolei sollte eine führende Rolle dabei übernehmen, andere kleine Nationen zusammenzuführen, um gemeinsam deren einzigartige Kulturen und Zivilisationen zu schützen. „Es ist sehr wichtig, daß sich die kleinen Nationen der Erde zusammentun. Sonst werden wir die soziale und moralische Balance verlieren. Ich wundere mich manchmal darüber, wie sehr Leute sich grämen, wenn eine der bedrohten Pflanzen untergeht. Dann heißt es, wir verlieren die ökologische Balance – aber wenn kleine Nationen verschwinden, dann kümmert das kaum jemanden.“

Was bleibt … als Anstoss und Aufgabe

Die Weite der eurasischen Steppe und das Rund der mongolischen Jurte, das waren die prägenden und extremen Erfahrungen meiner Sommerreise mit Baikal Tours – beides führt hin zur Herausforderung der Gegenwart. Natürlich gibt es kein Zurück in die Jurte und es ist absurd,, mit dem Eroberer Dschingis Khan von einem mongolischen (Welt-)Reich zu träumen.

Aber wir moderne, globalisierte Reisenomaden können erkennen, dass wir unsere Welt als gemeinsamen Kugel zu gestalten haben in einem Prozess, der tiefer gehen muss als die wirtschaftliche Globalisierung: Die Jurte als Gegenfigur zur mittelalterlichen Multi-kulti- Stadt Karakorum oder zum modernen Ulan Bator und als „denk-mal !“ für die Gestaltung unseres Wohnens auf Zeit um Kreis unserer Angehörigen und unter dem Himmel des Welt-Globus !

Quellen:

– Wikipedia-Artikel „Jurte“ und „Tengrismus“.

– · Kai Ehlers: Globalisierung à la Tschingis Chan? Ein Gespräch mit Prof. Dr. Schagdaryn Bira in Ulanbator uber die Bedeutung des mongolischen Tengerismus fur die Globalisierung; Eurasisches Magazin vom 25. September 2003.

– Ken Wilber, Eros Kosmos Logos. Eine Jahrtausend-Vision. Frankfurt am Main 1996.

 

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